Jürgen Tarrach (l) und Jan Thürmer bei den Proben zu «Luther». (Urheber/Quelle/Verbreiter: David Baltzer/Nibelungen-Festspiele Worms/dpa)

Martin Luther hat an diesem Abend nichts zu befürchten. 500 Jahre nach einem Schlüsselmoment deutscher Geschichte, als er vor Kaiser und Reich seine Lehren widerrufen sollte, steht der Reformator im Eröffnungsstück «Luther» der Nibelungen-Festspiele in Worms von Beginn als Sieger fest – ohne überhaupt auf der Bühne zu erscheinen.

Trotzdem kommt das dreistündige Spektakel vor dem Dom nicht ohne den Mönch aus. Autor Lukas Bärfuss zeichnet ein Sittengemälde der damaligen Zeit. Es ist ein Abend, der Gewissheiten ins Wanken bringt.

Bei langsam verglühendem Abendlicht lotet Georg-Büchner-Preisträger Bärfuss den Vorabend der Reformation aus. Luthers Zeitgenossen haben sich in Dekadenz und Unmoral eingerichtet – auch Papst Leo X., den die Schauspielerin Sunnyi Melles so betörend irre spielt wie einst Peter Ustinov den Kaiser Nero.

Doch mit den Thesen von Luther, dem «Guerillakämpfer im Namen Gottes» (Bärfuss), geht das Gespenst der Freiheit um. Weltliche und geistliche Herrscher verlieren Macht. Wie zerbrechlich die menschliche Existenz ist, wie schnell «alles vorbei» sein kann, das ist an diesem Abend in Worms ein zentrales Thema.

Schweigeminute für die Flutopfer

Denn natürlich beherrscht auch in einer der ältesten Städte Deutschlands am Rhein die Hochwasserkatastrophe im eigenen Bundesland Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen die Gespräche. In einem berührenden Moment hält das Premierenpublikum im Gedenken an die Flutopfer für eine Minute schweigend inne.

Bis auf Kulturministerin Katharina Binz sagt die Landesregierung um Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) ihr Kommen ab. Auch Binz (Grüne), die das Kabinett in Worms vertritt, sagt: «Es ist kein unbeschwerter Abend.»

Intendant Nico Hofmann trägt ebenfalls Sorgenfalten auf der Stirn. Er hat Bekannte in der besonders getroffenen Krisenregion Eifel. «Gefeiert wird auf der Premiere nicht, das verbietet sich von alleine», sagt Hofmann – das sei für alle in Worms klar gewesen. Dabei war die Vorfreude auf Kultur inmitten der Corona-Pandemie groß. Im vergangenen Jahr waren die Nibelungen-Festspiele erstmals seit dem Start 2002 ausgefallen. Diesmal dürfen in Worms wenigstens rund 700 der etwa 1400 Plätze auf der Zuschauertribüne besetzt sein.

Sie sehen ein buntes Panoptikum an Figuren auf einer mattgoldenen Bühne. Aus einem Kiosk mit Grableuchten und Postkartenständer heraus zieht Kurfürst Friedrich (Barbara Colceriu) die Strippen. Kurfürst Joachim (Jan Thümer) irrlichtert als skrupelloser Hippie mit Sonnenbrille über eine lange Rutsche. Der korrupte Bischof Albrecht (Jürgen Tarrach) stolziert in Badelatschen durch das Bühnenbild von Lili Izsák. Die ungarische Regisseurin Ildikó Gáspár lässt ihre Figuren auf Rollern und in einer Fahrradrikscha unterwegs sein.

Von Madonna bis zu den Eagles

Und immer wieder erklingt Musik. Einmal ist es «Like A Virgin» von Madonna, einmal «Hotel California» von den Eagles. Auch zur Wahl eines Kaisers wird gesungen – Deutschland sucht den Lutherstar, gewissermaßen. «Für mich ist alles Musik», sagt Gáspár. «Der Raum, Licht, die Figuren, wie sie sich bewegen, alles ist musikalisch, ein Rhythmus, durch den sich die Zeit strukturieren lässt.» Autor Bärfuss wiederum hält sich im Text an historische Quellen. Der Schweizer hat aber auch keine Scheu, etwa Luther auf Butter zu reimen.

Noch bis 1. August ist «Luther» ohne Luther zu sehen. «Luther tritt nicht auf, er ist aber allgegenwärtig», sagt der künstlerische Leiter Thomas Laue. Es gehe nicht um eine Biografie. «Es geht darum, wie aus einem Augustinermönch, den auch die Mächtigen nicht ernst nehmen, mit der Verbreitung seines Wortes durch den Buchdruck, ohne den das Phänomen Luther wohl gar nicht möglich gewesen wäre, einer der großen Weltveränderer seiner Zeit wird, an dem niemand mehr vorbei kommt.»

In 95 Thesen hatte Luther den Ablasshandel der katholischen Kirche kritisiert, sich von Sünden freikaufen zu können. Vor dem Reichstag in Worms weigerte sich der Mönch am 18. April 1521, seine Schriften zu widerrufen. Dabei werden ihm die Sätze «Hier stehe ich. Ich kann nicht anders» zugeschrieben. Die Reformation nahm ihren Lauf.

Von Wolfgang Jung, dpa