Fern (Frances McDormand) ist eine moderne Nomadin. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Joshua James Richards/20th Century Studios/dpa)

Eine nostalgische Western-Stimmung schwingt bei «Nomadland» ständig mit. Der Blick geht über karge Landschaften, verschneite Bergketten, endlose Weiten und verlassene Orte. Doch statt Planwagen sind es nun alte Vans und rostige Wohnwagen, mit denen moderne Nomaden durch die USA ziehen.

Auch Fern, eine Witwe, Anfang 60, hat sich diesem Treck angeschlossen. In einem ausgebauten Truck mit kleiner Schlafkoje und Kochecke hat sie ihre Habseligkeiten verstaut.

Ihr Haus in dem Kaff Empire im US-Staat Nevada musste sie während der Finanzkrise aufgegeben. Nach der Schließung eines Gipsplattenwerks hatte der Ort im Jahr 2011 quasi dicht gemacht. Empire gibt es tatsächlich, Fern ist eine fiktive Figur, verkörpert von Frances McDormand (64, «Fargo», «Three Billboards Outside Ebbing, Missouri»). Doch man vergisst sofort, dass sie Schauspielerin ist. Das ungeschminkte Gesicht, von Alltagssorgen gezeichnet, mit trotzigen Furchen macht sie zur realen Kämpferin, die sich als Nomadin mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt.

Feinfühliges Road-Movie

Es ist eine Kehrseite des Amerikanischen Traums, die McDormand und die in China geborene Regisseurin Chloé Zhao (39) trotz bedrückender Realität mit einer berührenden Poesie aufzeigen. «Nomadland» hat viele Blickwinkel und trifft mitten ins Herz: Es ist ein Road-Movie über Menschen, die Freiheit und Gemeinschaft suchen, ein Dokudrama über Altersarmut und soziale Missstände, eine Milieustudie, die weniger anprangert, als feinfühlig beobachtet.

Fern ist eine komplexe Figur, mit Geldsorgen und Abenteuergeist, Freiheitsdrang und Stolz. Sie ist pragmatisch und weit davon entfernt, sich als Opfer zu sehen. Als sie in einem Supermarkt auf eine frühere Schülerin trifft, will das Mädchen wissen, ob sie obdachlos ist. Gefasst antwortet Fern: «Nein, ich bin nicht obdachlos, ich bin nur hauslos, ist nicht dasselbe, hab‘ ich Recht?».

«Nomadland» basiert auf dem Sachbuch der US-Journalistin Jessica Bruder «Nomaden der Arbeit: Überleben in den USA im 21. Jahrhundert». Die Autorin hatte einige dieser Umherziehenden ein Jahr lang begleitet, Zhao tat es ihr mit einer kleinen Kamera-Crew nach. Sie waren selbst in Vans unterwegs, trafen Nomaden und drehten mit ihnen auf Campingplätzen in Naturparks, entlang von Highways, bei ihrer Arbeit in Großküchen, auf Erntefeldern und als Packer in einem riesigen Amazon-Versandzentrum.

Fast ausschließlich Laiendarsteller

Echte Nomadinnen, wie Linda May, die mit ihrem Camper durch den Westen der USA zieht, werden zu Darstellerinnen, während McDormand überzeugend zu einer von ihnen wird. In einer Szene folgen sie dem Aussteiger Bob Wells, der seit 2010 in Arizona ein jährliches Treffen für Van-Rentner abhält. Neben McDormand ist David Strathairn (72, «Good Night, and Good Luck») der einzige bekannte Profi-Schauspieler.

Ihren zweiten Spielfilm «The Rider» (2018) hatte Zhao bereits mit Laiendarstellern gedreht. In dem modernen Western ging es um einen jungen Rodeo-Reiter auf einem Indianerreservat, der nach einem Unfall in eine schwere Lebenskrise stürzt. Auch dieser berührende Film wirkte verblüffend authentisch, wie eine Dokumentation, untermalt von atemberaubenden Bildern der weiten, amerikanischen Natur.

Mit «Nomadland» schrieb die Regisseurin nun Filmgeschichte. Bei den Festspielen in Venedig holte das Road-Movie im vorigen September den Goldenen Löwen für den besten Film. Nach zwei Golden Globes für Regie und das beste Drama folgte Ende April die Krönung mit drei Oscars.

Zhao wurde als erst zweite Frau in der langen Oscar-Geschichte, nach Kathryn Bigelow mit «Tödliches Kommando – The Hurt Locker», für die beste Regie geehrt. Außerdem gewann ihr Werk den wichtigsten Preis für den besten Film. Für McDormand gab es den verdienten dritten Oscar als beste Hauptdarstellerin.

Auf der Bühne dankte Zhao ausdrücklich ihren Laiendarstellern. Diese Menschen hätten ihr «die Kraft der Belastbarkeit und Hoffnung beigebracht». «Vielen Dank, dass ihr uns (…) daran erinnert habt, wie wahre Güte aussieht», erklärte die Regisseurin. Tatsächlich spürt man es dem Film an, dass die Macher aus Hollywood und die Nomads sich auf der filmischen Odyssee nahe gekommen sind – und dabei auch Spaß hatten.

Einer dieser humorigen, warmherzigen Szenen entstand im Badlands-Nationalpark in South Dakota. Fern und Linda May schuften dort als Reinigungsteam auf einem Campingplatz. Während einer Pause ruhen sie sich auf billigen Plastikklappstühlen aus. «Willkommen im Badlands Spa», witzelt Fern und legt Linda ein Erfrischungstuch auf’s Gesicht und kühlende Gurkenscheiben auf die Augen.

Chloé Zhao taucht ins Marvel-Universum ein

Der Gegensatz zu Zhaos nächstem Film könnte nicht krasser sein. Nach «Nomadland» mit einem Billigbudget von rund 5 Millionen Dollar drehte die Regisseurin ihr erstes Superhelden-Spektakel, die futuristische Marvel-Produktion «Eternals». Mit Drehkosten von geschätzten 200 Millionen Dollar und einer Starbesetzung um Angelina Jolie, Salma Hayek, Gemma Chan und Kit Harington darf man auf die Handschrift der Filmemacherin gespannt sein. In einer Trailerszene landet ein Raumschiff an einer wilden Küste in einer kargen Landschaft. «Eternals» soll im November in die Kinos kommen.

Von Barbara Munker, dpa